Mittwoch, 1. Juli 2020

Kann H&M wirklich zum Krisenprofiteur werden?




Viele Blicke sind die Tage auf H&M gerichtet. In der Halbjahreskonferenz von H&M berichtete Konzernchefin Helena Helmersson über Umsatzeinbrüche von 50% und einem Verlust von knapp 500 Millionen Euro im abgeschlossenen 2. Quartal.

Darauf bezugnehmend veröffentlichte der SPIEGEL einen Bericht, in welchem ein Branchenexperte schilderte, wie H&M über viele Jahre zwar eine ganze Reihe von Entwicklungen „verschlafen“ habe, die momentane Krise allerdings als Beschleuniger der Entwicklung des Unternehmens in Bezug auf den Onlineshop, digitale stationäre Geschäfte und mehr Schnelligkeit wirken könne.

Dem zum Anlass haben wir einen H&M-Unternehmensexperten gefragt und hinter die Kulissen geschaut, wie es derzeit unternehmensintern um die Entwicklung der deutschen stationären Einzelhandelsgeschäfte bei H&M steht.

Auf die Frage, wie die von Helena Helmersson bekannt gegebenen Konzernumsätze im Hinblick auf den deutschen Markt zu bewerten sind, gibt unser Unternehmensexperte zu bedenken, dass es sich um Zahlen aus dem 2. Quartal (März - Mai 2020) des gesamten Konzerns handelt. Zu einem Großteil dieses Zeitraums war eine Vielzahl der Stores komplett unbeeinflussbar geschlossen, womit ein derartiger Umsatzrückgang und Verlust völlig logisch sind und nicht verwunderlich sein können. Wesentlich interessanter wäre somit eine Betrachtung der aktuellen Kennzahlen der deutschen Geschäfte im Juni, also seit Wiedereröffnung der Stores und Abflachung der behördlichen Corona-Vorgaben. Hier gibt es Anlass zur Vermutung, dass diese Zahlen in vielen Stores wieder wesentlich optimistischer aussehen, denn in vielen Filialen hat die Kundenfrequenz wieder derart angezogen, sodass kaum Zeit für Infektionsschutzmaßnahmen war und die Berechtigung der Kurzarbeit öffentlich in Frage gestellt wurde (wir berichteten hier). Dieser Eindruck ging auch aus einer Umsatzbetrachtung der Stores innerhalb der Verhandlungen zu Kurzarbeit ab Juni unmittelbar nach Storeeröffnung hervor und erhärtet sich dadurch, dass sich H&M seitdem bei den aktuellen Unternehmenskennzahlen bedeckt hält und eine Bekanntgabe dieser dem Gesamtbetriebsrat und Wirtschaftsausschuss verweigert. 



H&M steht sich bei der Digitalisierung selbst im Weg

Im Hinblick auf eine Beschleunigung der Entwicklung durch die Krise ist zunächst in Frage zu stellen, ob H&M dafür in seinen Planungen überhaupt schon weit genug ist. Der Gesamtbetriebsrat sprach sich schon lange vor der Pandemie für ein Zukunftskonzept der Stores aus und ist dementsprechend schon fortlaufend an einer Entwicklung von möglichen Zukunftskonzepten („Store der Zukunft“ und „Mitarbeiter*innen der Zukunft“). Leider ist man sich nach Insiderinformationen mit H&M nicht über diese Zukunftskonzepte einig. Während der Gesamtbetriebsrat auf Verbesserung und technische Neuerungen setzt, dabei aber gleichzeitig auf den Erhalt von Arbeitsverhältnissen, Gesundheitsschutz, Qualifikation und Eingruppierung wert legt, versucht H&M vornehmlich 1:1 seinen Mitbewerbern wie beispielsweise ZARA nachzueifern und vergisst dabei die Beschäftigten bei den Veränderungen mit ins Boot zu holen. Die umfassende Betrachtung des Gesamtbetriebsrat ist dabei allerdings nachvollziehbar, denn bei Mitbewerbern haben sich mit der digitalen Transformation auch Nachteile gezeigt, welche es aus Sicht der Arbeitnehmervertretungen bei H&M zu verbessern gilt. Eine derartige Verbesserung oder Gesamtbetrachtung ist von H&M jedoch an keiner Stelle angedacht.

Probleme aus einer fehlenden Gesamtbetrachtung zeigen sich schon heute insbesondere beim Mitbewerber ZARA, welcher H&M bei der digitalen Transformation weit voraus ist: Viele der Beschäftigten haben im Zuge von Automatisierung ihren Arbeitsplatz verloren oder erkennen diesen nicht wieder. Denn durch die Einführung von Automatisierungstechnologien wie beispielsweise RFID, sind für das Unternehmen rechtliche Lücken und Möglichkeiten entstanden, einen Großteil der anfallenden Tätigkeiten in den Stores und im Lager dauerhaft an andere Unternehmen outzusourcen. Viele Tätigkeiten sind gänzlich weggefallen, die wenigen weiterhin bestehenden Tätigkeiten werden nun meist durch Fremdunternehmen ausgeführt. Dies ist für ZARA wesentlich günstiger: Denn es besteht für diese Fremdfirmen weder Tarifbindung, noch muss ZARA sonstige Lohnnebenkosten direkt tragen. Verlierer sind die Beschäftigten. Diejenigen, die noch direkt bei ZARA angestellt sind, beklagen zunehmende Monotonie und technische Überwachung auf Schritt und Tritt. Dass derartige Vorgehensweisen nicht auch bei H&M so umgesetzt werden, möchte H&M den Arbeitnehmervertretungen allerdings nicht versichern beziehungsweise bestreitet derartige Möglichkeiten sogar.

Außerdem werden von Arbeitnehmervertretungen viele von denen von H&M geplanten Maßnahmen als bewusste Verlagerung von Umsätzen aus den Geschäften hinaus in den Onlineshop angesehen. Das Problem dabei: Die Stores und der Onlineshop sind bei H&M gesellschaftsrechtlich getrennte Unternehmen. Allerdings muss jedes Unternehmen für sich selbst profitabel bleiben und derartige Umsatzverlagerungsmaßnahmen führen zwar zu einem Push des Onlinehshops, gleichzeitig werden die Stores aber zunehmend geschwächt. Auch dies kann die Schließungen und Entlassungen in den Stores zusätzlich beflügeln. Gespräche über die Umsetzung eines vom Gesamtbetriebsrat geforderten Gesamtkonzepts, welches unter anderem die Zusammenlegung beider Gesellschaften beinhaltet, werden bisher von H&M ebenso blockiert. 



Forderung eines Tarifvertrags zur Digitalisierung

Anstelle der Nacheiferung von Mitbewerbern ohne Wenn und Aber, muss es aus Sicht der Arbeitnehmervertretungen und ver.di-Aktiven bei H&M das vornehmliche Ziel bei der Transformation des Unternehmens sein, Digitalisierung, Standort- und Beschäftigungssicherung und gesunde Arbeit als Gesamtkonzept zu vereinen. Aus diesem Grund wird von diesen ein Tarifvertrag zur Digitalisierung gefordert.

Dies wäre ein erster wichtiger Schritt in eine positive Zukunft von H&M. Nach Informationen unseres Unternehmensinsiders, ist die deutsche Unternehmensleitung davon derzeit leider weit entfernt. Anstelle gemeinsam mit den Arbeitnehmervertretungen an der Zukunft im Sinne der Beschäftigten und des Unternehmens zu arbeiten, wird von H&M zunehmend versucht, die Verantwortlichkeit von Versäumnissen aus der Vergangenheit auf die Arbeitnehmervertretungen abzuwälzen. Während H&M den Verhandlungen zum Abschluss eines (in anderen Unternehmen bereits existierenden) Digitalisierungstarifvertrags bisher die Absage erteilt hat, arbeitet die deutsche Unternehmensleitung nicht an der Mitnahme der Beschäftigten im Digitalisierungsprozess, sondern an deren Zerschlagung.

Zunächst wurde versucht, den Gesamtbetriebsrat dazu zu drängen zu unterschreiben, zukünftig weitestgehend darauf zu verzichten, eine eventuelle Abmilderung der oben genannten negativen Auswirkungen durchzusetzen und auf Punkte wie den Erhalt von Arbeitsverhältnissen, Gesundheitsschutz, Qualifikation und Eingruppierung einwirken zu können („Digitalpakt“). Als der Gesamtbetriebsrat diese Unterschrift verweigert hat, wurde von H&M sogar betriebsöffentlich und unbefangen die Zerschlagung des Gremiums gefordert. Dass eine Zerschlagung der Vertretung der Beschäftigten eine mittelbare Zerschlagung der Beschäftigten selbst zur Folge hat, scheint H&M dabei nicht zu interessieren.

Ob H&M mit dem aktuellen Vorgehen zum Profiteur der Krise werden kann, bleibt abzuwarten, der Abschluss eines Tarifvertrags zur Digitalisierung wäre aber der erste große Schritt in die richtige Richtung. 



Quelle:
  
SPIEGEL: Wie H&M zum Krisenprofiteur werden kann